Verteidigung oder Angriff – wie weit darf Kiew gehen? (2024)

"maybrit illner" – Der Polit-Talk im ZDF vom 30. Mai 2024

Zu Gast am 30. Mai 2024

Russlands Offensive scheint unaufhaltsam - am Boden und in der Luft. Die Ukraine hat im Moment wenig, um dagegen zu halten. Der Westen gibt sich besorgt und diskutiert dennoch jeden weiteren Schritt: Freigabe westlicher Waffen für Angriffe auf Militär-Einrichtungen in Russland, eine Art Flugverbotszone im Westen der Ukraine, kontrolliert von Nato-Territorium, oder gar Truppen mit besonderen Aufgaben - Bundeskanzler Scholz ist von all dem nicht überzeugt. Seine SPD wirbt bei der Europawahl mit dem Slogan "Frieden sichern".

Wie soll dieser Frieden aussehen? Wäre es ein Frieden nach Putins Vorstellungen? Redet der deshalb jetzt von einem Waffenstillstand? Was können die Verbündeten tun, um die Lage der Ukraine und ihre Verhandlungsposition zu verbessern?

Bei Maybrit Illner diskutieren der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter, der frühere Bundesaußenminister und heutige Vorsitzende der Atlantik Brücke, Sigmar Gabriel, sowie Mychajlo Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, Generalleutnant a. D. Ben Hodges und Sabine Fischer, Russland- und Osteuropa-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

"maybrit illner" mit dem Thema "Verteidigung oder Angriff - wie weit darf Kiew gehen?" am Donnerstag, 30. Mai 2024, um 22:15 Uhr im ZDF.

Fakten-Box | 30. Mai 2024

  • Der Westen hat laut Präsident Wladimir Putin die jüngste russische Offensive im Großraum der ukrainischen Stadt Charkiw provoziert. Warnungen Russlands, Angriffe der Ukraine auf Ziele im benachbarten russischen Belgorod zu unterlassen, seien ignoriert worden, erklärte Putin.

    Die Lage für die ukrainischen Truppen an der Front gilt als schwierig. Eine tschechische Initiative machte Hoffnung auf baldigen Nachschub an Artilleriemunition. Die erste Lieferung soll im Juni eintreffen. Spitzenpolitiker aus fünf europäischen Nato-Staaten bekräftigten bei einem Treffen mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal in Prag ihre Unterstützung.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schilderte am Rande eines Treffens mit dem belgischen Ministerpräsidenten Alexander De Croo die schwierige Lage seiner Truppen angesichts der russischen Offensive im Grenzgebiet zu Charkiw. Sie würden mit Artillerie und weitreichenden Waffen beschossen, aber nicht dagegenhalten, erklärte er. Um nicht unter dem Beschuss zu sterben, zögen sich die ukrainischen Soldaten Schritt für Schritt zurück, während die russischen Truppen jedes Mal nachrückten. In einem Baumarkt in Charkiw seien Zivilisten und Kinder getroffen worden. „Und du kannst nicht antworten“, sagte er.

    Zuletzt hatte die russische Armee am 10. Mai in der Region Charkiw eine Bodenoffensive gestartet, bei der ihr die größten Gebietsvorstöße seit 18 Monaten gelungen sind. Infolge der Kämpfe mussten nach Angaben von Regionalgouverneur Oleh Synegubow mehr als 11.000 Menschen in dem Gebiet ihre Häuser und Wohnungen verlassen.

    Bildquelle: Reuters

  • Die Ukraine fordert die Erlaubnis der USA und anderer westlicher Staaten, schlagkräftige Raketen mit größerer Reichweite und Marschflugkörper für Angriffe auf Russland nutzen zu können, um den Gegner effektiver zu bekämpfen. Bisher nutzt Kiew für diese Angriffe vor allem Drohnen und Raketen aus eigener Produktion. Das russische Militär kann praktisch ungestört Einheiten hinter der Grenze für neue Angriffe auf ukrainisches Gebiet zusammenziehen oder von sicherer Stellung aus mit Flugzeugen grenznahe Städte wie Charkiw bombardieren.

    Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez wurde bei einem Besuch Selenskyjs am 27. Mai auch zu möglichen Überlegungen westlicher Länder gefragt, Forderungen der Ukraine nachzukommen und den Einsatz westlicher Waffen auch gegen Ziele auf russischem Gebiet zu genehmigen. Dazu sagte der sozialistische Politiker: „Diesen Willen, diese Absicht haben wir sicherlich nicht, und ich habe auch keine Informationen darüber.“ Selenskyj nahm in Madrid zu diesem Punkt nicht weiter Stellung.

    Polen sollte nach Ansicht von Außenminister Radoslaw Sikorski den Einsatz eigener Truppen in der Ukraine nicht ausschließen. "Wir sollten Putin im Dunkeln über unsere Absichten lassen", sagt er in einem Interview am 28. Mai. Welche Rolle polnische Soldaten im Nachbarland spielen könnten, erklärte er nicht. Zuvor hatte Sikorski bereits erklärt, die Präsenz von Nato-Soldaten in der Ukraine sei nicht undenkbar.
    Der „Spiegel“ enthüllte außerdem, dass Polen und die baltischen Staaten ihre Bereitschaft signalisiert hatten, Truppen in die Ukraine zu schicken, falls die Front zusammenbricht. Dies würde bedeuten, dass sich Nato-Länder und damit de facto die Nato selbst im Krieg mit Russland befinden würden.

    Der Französische Präsident Emmanuel Macron hatte im Rahmen seines Deutschland-Besuchs am 28. Mai dazu gemahnt, durch größere Anstrengungen einen Sieg Russlands in seinem Angriffskrieg zu verhindern. So will er der Ukraine erlauben, militärische Stellungen auf russischem Territorium mit westlichen Waffen anzugreifen. „Wir denken, dass wir ihnen erlauben sollten, die Militärstandorte, von denen aus die Raketen abgefeuert werden, und im Grunde genommen die militärischen Standorte, von denen aus die Ukraine angegriffen wird, zu neutralisieren“, sagte Macron am Dienstag nach einem Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf Schloss Meseberg bei Berlin. Er stellte jedoch klar: „Wir sollten nicht erlauben, andere Ziele in Russland zu treffen, zivile Kapazitäten natürlich oder andere militärische Ziele.“

    Scholz äußerte sich weniger klar als Macron zu der Frage, ließ aber durchblicken, dass er keine rechtlichen Einwände gegen ein solches Vorgehen hätte. Die Ukraine habe völkerrechtlich alle Möglichkeiten für das, was sie gegen die russischen Angreifer tue. „Sie ist angegriffen und darf sich verteidigen“, sagte der Kanzler. Für die Nutzung der von den USA, Frankreich oder Deutschland gelieferten Waffen gebe es Regelungen, „die besagen, dass das sich immer im Rahmen des Völkerrechts bewegen muss. Das ist das, was wir vereinbart haben, das hat bisher praktisch gut funktioniert und wird es auch sicher.“

    Ausweitung des Waffeneinsatzes

  • Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erneuerte bei einem Verteidigungsministertreffen der EU in Brüssel am 28. Mai Forderungen nach einer Aufhebung bestehender Beschränkungen für ukrainische Angriffe. Mit den Äußerungen setzt Stoltenberg Deutschland und andere Staaten unter Druck, die die Abgabe von Waffen an die Ukraine an strenge Auflagen für deren Nutzung gekoppelt haben. Diese sehen zum Beispiel vor, dass mit ihnen keine Angriffe auf Ziele in Russland ausgeführt werden dürfen. Hintergrund ist die Befürchtung, dass die Nato zur Kriegspartei werden könnte.

    Stoltenberg und auch Verteidigungsminister östlicher Nato-Staaten betonten hingegen am 28. Mai in Brüssel, dass sie kein großes Eskalationsrisiko sehen. Stoltenberg verwies zum Beispiel darauf, dass der Ukraine gespendete Waffen nach der Übergabe ukrainische Waffen seien und ein Teil der Nato-Staaten der Ukraine schon seit jeher Waffen ohne Auflagen liefere. Zudem betonte er, dass der Einsatz von Waffen gegen militärische Ziele durch das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine gedeckt sei.

    Für die Ukrainer werde es insbesondere in der Region Charkiw sehr schwer und hart sein, sich zu verteidigen, wenn sie Ziele wie Artilleriestellungen oder Flugplätze auf der anderen Seite der Grenze nicht treffen könne, erklärte Stoltenberg. Die Kämpfe in der Region fänden teilweise direkt an der Grenze statt.

    Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schließt den Einsatz deutscher Waffen gegen Ziele in Russland weiterhin aus. Es gelte zu "verhindern, dass es zu einer Eskalation des Krieges, zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato kommt", sagte er bei einem Bürgerdialog in Berlin am 24. Mai. Aus ähnlichen Gründen lehnt Scholz bisher die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine ab.

    Auch die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni äußerte sich ablehnend. "Ich verstehe Stoltenbergs Äußerungen nicht", sagte sie zu einem Interview des Generalsekretärs, in dem er seinen Vorstoß erstmals öffentlich machte. "Wir müssen sehr vorsichtig sein", betonte Meloni.

    Stoltenberg sagte in Sofia weiter, die Entscheidung liege bei den einzelnen Nato-Ländern. Es gehe allerdings um die Selbstverteidigung der Ukraine gegen den Aggressor Russland. "Selbstverteidigung umfasst das Recht, legitime militärische Ziele innerhalb von Russland zu treffen", betonte er. Militärvertreter sehen die Ukraine in der Defensive, solange sie die russischen Nachschubwege nicht treffen kann.

    Bildquelle: AFP

  • Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnt die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine seit Monaten ab, auch mit der Begründung, Deutschland könnte dadurch in den Krieg hineingezogen werden. Aus der Union sowie aus der SPD selbst gibt es scharfe Kritik an diesem Kurs.

    "
    Putinnutzt eiskalt unsere Beschränkungen zum Einsatz der westlichen Waffen aus", sagte der SPD-Verteidigungspolitiker Andreas Schwarz der "Rheinischen Post" am 28. Mai. Schwarz verwies auf die massiven russischen Angriffe auf zivile Ziele im ukrainischen Charkiw. "Hier beschießt die russische Armee aus Russland heraus in aller Ruhe die zweitgrößte Stadt der Ukraine, weil sie nicht über ausreichend Luftabwehr verfügt und der ukrainischen Armee an der Landesgrenze die Hände gebunden sind", kritisierte der SPD-Politiker. "Wir müssen umdenken und die Gedanken des Nato-Generalsekretärs Stoltenberg aufgreifen, damit die Ukraine auch die Stellungen auf russischem Territorium angreifen kann, von denen aus sie angegriffen wird", verlangte daher Schwarz.

    Scharfe Kritik am Kurs von Scholz äußerte auch der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter. Wenige Kilometer hinter der Grenze hätten die russischen Streitkräfte ihren Angriff auf Charkiw vorbereitet, sagte er in der Sendung "Frühstart" von RTL und ntv am 28. Mai. "Und Europa hat zugeschaut und tausende Ukrainer verlieren wieder ihr Leben", kritisierte er weiter. Dass Deutschland neben Ungarn zu den Bremsern in der EU gehöre, liege "am Bundeskanzler, am Kanzleramt", fügte Kiesewetter hinzu.

    Der CDU-Politiker begrüßte die Aufforderung von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die Unterstützung für die Ukraine zu verstärken sowie seine Ankündigung, französische Militärausbilder in die Ukraine zu schicken. Von Scholz erwarte er, dass er zumindest mehr um Verständnis werbe "für andere Staaten, die mehr tun, die präsenter sind und die auch mit dieser zunehmenden russischen Eskalation aktiver umgehen". Kiesewetter warnte vor einem Zerfall der Ukraine und einer Massenflucht in die EU, wenn Russlands Präsident WladimirPutinnicht entschlossener entgegengetreten werde.

    Der russische Präsident Wladimir Putin hatte zuletzt erneut mit ernsten Konsequenzen gedroht, sollte der Westen der Ukraine grünes Licht für den Einsatz seiner Waffen gegen Ziele in Russland geben. "Diese ständige Eskalation kann zu ernsten Konsequenzen führen", sagte Putin am 28. Mai bei einem Besuch in Usbekistan. "In Europa, besonders in den kleinen Staaten, sollten sie sich bewusst machen, womit sie da spielen."

    Bildquelle: AP

  • Die Ukraine-Friedenskonferenz findet am 15. und 16. Juni in der Nähe von Luzern statt. Die Schweiz richtet die Konferenz auf Wunsch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aus und hat nach eigenen Angaben 160 Delegationen eingeladen. Russland ist nicht eingeladen und hat mehrfach erklärt, dass es kein Interesse an einer Teilnahme habe.

    In Brüssel rief Selenskyj nun zur Teilnahme an dem Treffen auf. Länder, die nicht am Gipfel teilnehmen würden, seien "zufrieden" mit dem Krieg, sagte der ukrainische Präsident. Selenskyj appellierte insbesondere an US-Präsident Joe Biden und Chinas Staatschef Xi Jinping. Beide sollten zu der Friedenskonferenz kommen. Dort werden absehbar die USA vertreten sein, aber wohl nicht durch Biden. China als enger Verbündeter Moskaus sieht das Treffen skeptisch, weil es ohne Russland stattfindet und nur Unterstützung für die Ukraine mobilisieren solle.

    Aus dem Kreml hieß es am Dienstag, ein Ukraine-Friedensgipfel ohne die Teilnahme Russlands sei "absurd". "Die Konferenz ist aus unserer Sicht völlig aussichtslos, wenn es darum geht, Wege zur Lösung des Konflikts um die Ukraine zu finden", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow dem staatlichen Fernsehsender RT. "Es ist absurd, ohne die Teilnahme unseres Landes ernsthaft über diese Fragen zu sprechen."

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Kreml-Chef WladimirPutinvorgeworfen, den Ukraine-Friedensgipfel in der Schweiz verhindern zu wollen. "Putinhat große Angst vor dem Friedensgipfel", sagte Selenskyj am 28. Mai bei einem Besuch in der belgischen Hauptstadt Brüssel. Der russische Präsident habe versucht, das internationale Treffen "zum Scheitern zu bringen und tut dies auch weiterhin".

    Dem Treffen in der Schweiz geht vom 13. bis 15. Juni im Nachbarland Italien der G7-Gipfel voran. Daher besteht die Hoffnung, dass viele Staats- und Regierungschefs wie etwa auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) persönlich an den Beratungen in der Schweiz teilnehmen.

    Bildquelle: dpa

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