Georgien - Angst vor einem Szenario wie in Belarus (2024)

Georgien - Angst vor einem Szenario wie in Belarus (1)

Stand: 20.05.2024 16:33 Uhr

Nach dem Veto der Präsidentin hat die Regierung Georgiens noch eine letzte Chance, das "Agenten-Gesetz" zurückzuziehen. Ihre Gegner denken bereits an die Wahl im Oktober und fürchten ein Szenario wie in Belarus.

Von Silvia Stöber, zzt. Tiflis

Im Parlament von Georgien geht es rau zu. Schimpfworte gehen hin und her, immer wieder kommt es zu Rangeleien, manchmal gibt es Schläge. Bei entscheidenden Sitzungen werden Oppositionsabgeordnete des Saals verwiesen.

Inmitten all der Provokationen falle es schwer, ruhig zu bleiben, sagt Ana Natswlischwili von der Oppositionspartei Lelo. Aber es gehe doch darum, das Abgeordnetenmandat mit Würde zu erfüllen.

Ein Zeichen wollte aber auch sie setzen: Bei einer Parlamentsdebatte kürzlich trug Natswlischwili Skibrille und Atemschutzmaske wie die Protestierenden vor dem Gebäude - aus Solidarität und um die Gewalt der Polizei gegen die Demonstranten anzuprangern.

Toxisch und zugleich inspirierend

Am Eingang ihres Parteibüros im Bahnhofsviertel fernab des herausgeputzten Stadtzentrums wachen vier Männer, die Tür ist gut gesichert. Der Bahnhof ist ein Drehkreuz zwischen Innenstadt, Vororten und dem ganzen Land. Man wolle offen sein für die Menschen, sagt die 39-Jährige. Andererseits müssen sich die Oppositionspolitiker schützen.

Natswlischwili hat wie viele immer Pfefferspray dabei. Zu oft kam es in letzter Zeit zu Angriffen auf prominente Regierungsgegner, ohne dass die Polizei auf Notrufe reagierte.

Die Stimmung sei toxisch, und es sei entwürdigend, wie die Regierung die Menschen ignoriere, die seit Wochen gegen das Gesetz über "ausländische Einflussnahme" protestierten. Zugleich sei es aber inspirierend zu sehen, wie widerstandsfähig sich die Gesellschaft zeige.

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Nicht zurück in den russischen Orbit

Es gehe um nicht weniger als die Unabhängigkeit Georgiens, die Regierung treibe das Land mit ihrer Politik zurück in den russischen Orbit. Es gebe aber genug Menschen in diesem Land, die sehr genau wüssten, was das bedeute.

Nach Jahrzehnten der Krise sei die EU wie ein Sicherheitsnetz, das ihnen die Regierung wegnehmen wolle. Vor allem die Drohungen vor einem Aussetzen der Visaliberalisierung sei heikel. Denn dank der Reisemöglichkeiten könnten die Menschen selbst sehen, wie gut es sich in der EU lebe. Die Propaganda der Regierung sei deshalb nicht mehr so wirksam, "weil die Menschen Zeugen des Unterschieds sind", so Natswischwili.

Ihre Partei habe bereits ein detailliertes Programm dazu ausgearbeitet, wie die Bedingungen der EU für den Beginn von Aufnahmegesprächen erfüllt werden könnten. Ein wichtiger Punkt sei die Frage, welche Schwächen im System der Gewaltenteilung dazu geführt haben, dass ein Oligarch den Staat habe erobern können. "Wir sollten eine staatlich unterstützte Denkfabrik einrichten, die darauf achtet, dass keine neuen Oligarchen geboren werden."

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Die Wähler überzeugen

Doch um diese Politik umsetzen zu können, muss sich die schwache und gespaltene Opposition so aufstellen, dass sie bei der Parlamentswahl im Oktober eine Alternative zur Regierungspartei darstellt.

Die Wähler des "Georgischen Traums" (GT) teilt Natswlischwili in vier Gruppen. Da seien jene, die die Regierungspartei durch ihre Arbeit im öffentlichen Sektor kontrollieren könne. Hinzu kämen mehr als 600.000 von Sozialleistungen abhängige Menschen - es gebe zahlreiche dokumentierte Fälle, wonach diesen Menschen mit dem Leistungsverlust gedroht wurde, wenn sie nicht für GT stimmen.

Eine dritte Gruppe profitiere von Ausschreibungen, die auf intransparente Weise an Unternehmen aus dem Umfeld von GT vergeben würden. Schließlich kämen jene hinzu, die bislang schlicht der Propaganda der Regierungspartei geglaubt hätten.

Zu überzeugen wären indes auch noch der - hohe - Anteil der Bevölkerung, der keiner Partei Glauben schenkt. Um die Fünf-Prozent-Hürde überwinden zu können, wären Wahlbündnisse sinnvoll, was die vorhandene Gesetzgebung allerdings erschwert und die immer noch kurzfristig geändert werden könnte.

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Erstwähler mobilisieren

Dachi Imedadze will junge Menschen überzeugen, an die Wahlurnen zu gehen. Seine Organisation Shame Movement entstand 2019 im Protest gegen den Auftritt des russischen Duma-Abgeordneten Sergej Gawrilow im georgischen Parlament. Mit seinen Mitstreitern habe er ausgerechnet, dass dieses Jahr 150.000 junge Leute erstmals abstimmen können, was das Ergebnis entscheidend beeinflussen könne.

Aber wen wählen? Er wisse es selbst noch nicht, sagt der 25-Jährige. "Entweder man macht nicht mit und sagt, keiner von denen ist okay, oder man geht hin und wählt jemanden, den man am wenigsten mag und betet dann für eine bessere Zukunft." Er setzt darauf, dass die Parteien zwei oder drei technische Allianzen bilden.

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Imedadze will die Erstwähler überzeugen, zur Wahl zu gehen.

Angst vor einem Szenario wie in Belarus

Shame Movement steht im Fokus der Regierungspropanda, obwohl sie die Proteste nur unterstützen, während es noch jüngere Gruppen aus den Universitäten und sogar Schulen sind, die fast täglich zu Aktionen aufrufen. Imedadze ist es - wie der Abgeordneten Natswilischwili - wichtig zu betonen, dass alle Altersgruppen an den Protesten teilnehmen, man überzeuge auch die eigenen Eltern und Großeltern. Am Samstag gingen erstmals Angestellte aus dem Gesundheitssektor auf die Straße.

Imedadze ist bereit, Shame Movement als "Organisation unter ausländischem Einfluss" zu registrieren und Einschränkungen hinzunehmen, solange er seinem Ziel folgen könne, "so viele Menschen wie möglich an die Urnen zu bringen". Er rechnet wie viele mit erheblichen Manipulationen und schließt auch eine Niederschlagung der Oppositionsbewegung wie in Belarus nicht aus.

Ähnlich sieht dies die Abgeordnete Natswlischwili. Sie plädiert deshalb an die EU, Sanktionen gegen Verantwortliche der Regierung zu verhängen. Außerdem solle die internationale Gemeinschaft zum Beispiel durch Langzeitbeobachtung helfen, dass die Wahl möglichst frei und fair ablaufen kann. Und sie fordert sehr klare Botschaften, "denn die diplomatische Sprache in den Händen der russischen Propagandamaschinerie funktioniert nicht".

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. Mai 2024 um 14:00 Uhr.

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